Zugegeben, die Homöopathie lebt manchmal mehr von der Hoffnung als vom Erfolg. Gerade in der Behandlung chronischer Erkrankungen hat sie ihr Potenzial noch nicht ganz entfaltet. Und mit Arzneien wie „Berliner Mauer“ oder dem „ Nordamerikanischen Weißkopfseeadler“ liefert sie ihren Gegnern die beste Munition.
Aber darüber kann man trefflich streiten und ich will niemanden geringschätzen, der mit solchen Exoten erfolgreich therapiert. Wir alle tragen in uns die feste Überzeugung, dass das Simile-Prinzip respektable Heilungen ermöglicht, denn wir alle haben solche Glanzlichter erlebt, wie ich sie im Folgenden beschreiben werde. Und wer das erfahren hat, weiß, was er an der Methode hat und setzt sie mit Eifer weiter ein, auch wenn er sich manchmal die Zähne ausbeißt in einem Fall schwerer Pathologie. Wir sind halt nicht selten die letzte Instanz.
Anlass zu diesem Text war dieser Tage ein „akutes Abdomen“. Die Dame, 62 Jahre alt, meldete ihren Besuch an wegen akuter Bauchschmerzen, erst an diesem Tage aufgetreten. Sie konnte keinen Anlass nennen und hatte auch noch keine Idee, was ihren Schmerzen zugrunde liegen könnte.
Das ganze Abdomen war zunächst unauffällig, doch als meine palpierende Hand sich dem rechten Unterbauch näherte, genauer dem McBurney-Punkt, reagierte sie mit Schmerz und heftiger Abwehr. Um andere Ursachen als eine akute Appendizitis auszuschließen, führte ich noch eine Ultraschalluntersuchung durch, fand aber keine weiteren Auffälligkeiten. Auf eine Bestimmung der Leukozyten verzichtete ich, da das Ergebnis an der Notwendigkeit einer stationären Einweisung und vermutlich umgehenden Appendektomie nichts ändern würde. Aber ich gab ihr noch eine Dosis Bryonia C200; die Empfindlichkeit des Peritoneums und auch der Loslassschmerz auf der linken Bauchseite gaben mir dafür den Grund.
Überrascht war ich dann doch, als sie mit am folgenden Tag telefonisch berichtete, dass sie die Nacht zuhause verbracht hatte, weil der Chirurg nur einen gefüllten Darm vermutete. Er entließ sie aus der Ambulanz mit der Empfehlung, nur im Falle eine Verschlechterung wieder die Klinik aufzusuchen; und das, obwohl die Leukozyten mit 10.000 relativ erhöht waren. Ich war empört und meinte, wohl neue Leitlinien nicht mitbekommen zu haben, nach denen man eine Appendizitis sich selbst überlassen könne.
Am Tag 3 sah ich sie wieder in meiner Praxis, kontrollierte die Zahl der Leukozyten, die nun auf 5.000 gesunken waren, und untersuchte erneut den Bauch: kein bisschen Schmerz mehr! Mir blieb nur die Vermutung, dass Bryonia innerhalb der kurzen Zeit, die die Patientin bis zur Vorstellung in der Klinik benötigte, die ganz offensichtliche Entzündung beruhigt haben muss.
Das war ein schönes Ergebnis, ich muss aber einräumen: es funktioniert nicht immer. Aber nachdem diese Patientin schon über die Jahre konstitutionell durch die homöopathische Begleitung stabilisiert war, konnte wahrscheinlich die aktuelle Krise durch ein reines Akutmittel gut abgefangen werden.
Fall 2: „Sehr geehrter Herr Trebin, durch Ihre freundliche Hilfe wurde die tagelange Blutung im Zeh des rechten Fußes schlagartig beendet. Recht herzlichen Dank dafür. Mit den besten Grüßen A.H“, stand in der Postkarte.
Was war geschehen? Meine Helferin rief mich während unseres Urlaubs an, sie würde gerne ihrem Nachbarn helfen, der seit Tagen mit blutigen Handtüchern versuche, eine Schnittwunde am Fuß zu beruhigen. Ob sie ihm nicht eine Gabe Staphisagria besorgen könne? Die Geschichte ließ mich aber gleich an eine Behandlung mit Blutverdünnern denken, was sie bestätigte, und so riet ich besser zu Crotalus horridus. Eine Gabe in C200 ließ die Blutung binnen 5 Minuten zum Stillstand kommen. Der Herr stand unter der Einnahme von Xarelto®, einem Gerinnungshemmer; den Grund dafür konnte ich nicht herausfinden.
Fall 3[1]: Es war einmal … eine Generation von Ärzten, die der Beobachtung am lebenden Menschen einen mindestens ebenso hohen Stellenwert beimaßen wie der wissenschaftlichen Analyse von Körperflüssigkeiten oder ähnlichen Forschungsobjekten. Sie gaben der Krankheit, die mit stark juckenden Ekzemen einhergeht, den Namen Neurodermitis und brachten damit zum Ausdruck, dass nicht selten zwischen der nervlichen Verfassung eines Menschen und seinen Hauterscheinungen ein Zusammengang gesehen wird.
Noch der alte Dermatologe Braun-Falco, dessen Lehrbuch mir täglich Hilfe gibt, soll, so sagt man, jeden Patienten mit dergleichen Leiden einem Psychologen vorgestellt haben. Immerhin entstammen Gehirn und Haut derselben embryonalen Anlage, nämlich dem Ektoderm, was schon für sich eine Verknüpfung beider Ebenen erklärt.
Ein Homöopath kommt nicht umhin, will er erfolgreich behandeln, seinen Patienten ganzheitlich zu betrachten, also alle seine Seinsebenen zu würdigen. Und so stößt man alle Tage auf erstaunliche Zusammenhänge von Psyche und Soma. Bei einer Patientin, deren Probleme ich im Folgenden schildern möchte, war ich besonders überrascht.
Knapp 30 Jahre alt, kam sie vor einigen Monaten in meine Behandlung. Nach einer Appendektomie sei ihre Haut krank geworden, sie habe nun eine Rötung mit Nässen und starkem Jucken im Gesicht, am Hals und in den Ellenbeugen, weiterhin gelegentlich zwischen den Fingern und in den Kniekehlen. Ferner neige sie zu Herpes der Wange, und in der Kindheit hätte sie sogar häufig einen Herpes der Hornhaut des Auges gehabt. Wärme, Sonne, Wasser und Schweiß sowie säurehaltigen Speisen, etwa Zitrusfrüchte, verschlechtern ihr Hautproblem. Während eines Urlaubs in Norwegen, im Binnenland, sei es ihr besser gegangen.
In jüngeren Jahren hätte sie unter allergischem Asthma gelitten, ihre Augen seien auffallend lichtempfindlich und würden im Wind gerne tränen, wandernde Gelenksschmerzen beeinträchtigen sie manchmal, vor der Regel sei sie reizbar, und zum Schlaf weiß sie zu erzählen, dass ihr die Träume nach dem Erwachen oft wie wahr erscheinen. Dass ihr die Zunge brennt bei Nüssen, ist als Kreuzallergie bei ihrer Pollinose erklärlich. Als Kind hätte sie Dellwarzen gehabt
Die Untersuchung zeigt ein Ekzem wie von ihr beschrieben, weiterhin fallen rissige Mundwinkel auf sowie eine Hautschuppung im Bereich der Augenbrauen. Sie ist auffallend hellhäutig.
Die Auswertung ihrer Symptome verweist deutlich auf Natrium muriaticum, aber auch auf Sulfur. Da ich besonders gerne mit kombinierten Arzneien arbeite, entscheide ich mich für Natrium sulfuricum, welches nicht nur bei Ekzemen gute Ergebnisse zeigt, sondern auch eine der wichtigsten Arzneien bei Pollinose oder kindlichem Asthma darstellt. Wohlwissend um die Tücke, die der Behandlung der Neurodermitis innewohnt, beginne ich mit einer behutsamen Dosierung und verordne Natrium sulfuricum LM6 als Tropfen der Firma Arcana zur täglichen Einnahme.
Drei Wochen später erzählt die Patientin per Telefon - sie wohnt zwei Fahrstunden entfernt - von einer anfänglichen Besserung, die aber zuletzt in eine Verschlimmerung umgeschlagen sei. Trotz einer Einnahme-Pause beruhige sich die Haut nicht mehr. Wie oft, wenn Natrium sulfuricum nur unvollständig wirkt, gebe ich gerne ergänzend die zugehörige Nosode, nämlich Medorrhinum, was vor allem bei Allergikern die Behandlung gewöhnlich gut voranbringt (Psorinum käme auch in Betracht).
Tatsächlich beruhigt sich das Ekzem für die Dauer von drei Tagen, um danach weiter zu blühen. Sie verspüre nun ein untergründiges Krabbeln, wie von Ameisen, nicht nur unter der Haut von Armen, Handflächen und Fußsohlen, sondern auch unter der Zunge.
Überzeugt von meiner Arzneimittelwahl entscheide ich mich für die Flucht nach vorne und schicke meiner Patientin nun Natrium sulfuricum zu als Globuli in C200, in der Hoffnung, nun einen kräftiger durchschlagenden positiven Effekt zu erzielen.
Eine Woche später reist sie selbst wieder an und wirkt völlig aufgelöst: Die Haut juckt und brennt, nun auch auf ekzemfreien Stellen, Ameisen laufen unter der Haut, die Zunge brennt bei allen Speisen, sogar nach den Globuli, sie spürt überall eine Hitze und ist verzweifelt vor Jucken. Und fatalerweise nützen weder Cortison-Salbe noch Antihistaminika.
Wenn ein Leiden allen Behandlungsversuchen widersteht inclusive stark wirksamen Allopathika, dann kommt der Verdacht auf, dass ein hoher psychischer Druck dem Übel zugrunde liegt. Aber die Frage nach emotionalen Stressfaktoren verneint sie. Wäre da nicht die Rubrik im Repertorium von Murphy Zunge brennt beim Essen und würde sie nicht nur die zwei Arzneien Natrium muriaticum und Ignatia aufführen, so hätte ich mich vielleicht täuschen lassen.
Bei einem gut begründeten Natrium-Salz waren wir ja schon, und der Hinweis auf Ignatia erhärtet den Verdacht auf einen stillen Kummer. Also gebe ich ihr Ignatia
C200 und bitte um einen Rückruf am folgenden Tag: Es geht besser, sagt sie, das extreme Brennen habe rasch nachgelassen. Also abwarten!
Nach drei Wochen erkundige ich mich telefonisch nach dem Zustand und höre ein kräftiges sächsisches “Sübböh!” (dt. super), “das Ekzem ist verschwunden”, und wir freuen uns beide über den Ausgang.
Ich weise nun vorsichtig daraufhin, dass ihr zuletzt einen Arznei half, die eine nicht unerhebliche psychische Belastung vermuten lasse, und leise räumt sie ein: ”Ja, die neue Arbeitsstelle… die Damen sind recht schwierig”. Da lag also das Problem, und vielleicht war ihr das selbst gar nicht bewusst.
Das ist eben typisch für Ignatia: Der Patient erlebt Kummer, Sorge oder Enttäuschung, frisst alles in sich hinein, spricht nicht darüber, zeigt aber seiner Umgebung auf indirekte, manchmal hysterisch anmutende Weise, dass es ihm nicht gut geht. Vom Therapeuten erfordert es kriminalistischen Spürsinn, den Hintergrund zu erahnen.
In diesem Fall fanden wir allerdings den konkreten Hinweis auf Ignatia in Form des Zungenbrennens beim Essen, aber auch - im Nachhinein erst verstanden - in dem Umstand der Besserung auf Reisen. Das als konstitutionelle Arznei gedachte Natrium-Salz stellt übrigens eine gute Ergänzung und Fortführung zu dem, ihrem aktuellen Zustand angemessenen, Ignatia dar.
“Guter alter Hahnemann, du hättest selbst dann nicht vergeblich gelebt, wenn Du uns nichts anderes hinterlassen hättest als dieses dreimal gesegnete therapeutische Vermächtnis!” ruft J.C. Burnett (1840-1901), der uns mit seinen erfolgreichen Tumorbehandlungen begeistert, zum Lobe von Ignatia aus.
Und ich meine: gesegnet sei Hahnemann für diese Heilmethode, die er uns erschlossen hat. Sie verlangt uns zwar viel Mühe ab, aber ohne sie möchte ich nicht Arzt sein.
Bamberg, im September 2021