Die Homöopathie ist nicht nur ein wunderbares therapeutisches System, vielmehr sind es auch ihr Wissen und ihre Erfahrung von über 200 Jahren, die uns erstaunliche Erkenntnisse über das Leben und die Menschen bereithalten. Man erfährt oft von wissenschaftlichen psychosozialen Arbeiten, mit großem statistischem Aufwand erstellt, deren Ergebnisse uns Homöopathen nicht überraschen, sondern schon längst vertraut sind.
So fand ich in der Süddeutschen Zeitung vom 8. April 2023 ein Interview mit der hochgelobten texanischen Forscherin Kathryn Paige Harden unter der Überschrift Reich dank Genen? Es ging um die Frage, wie unsere DNA unsere soziale Position beeinflusst, auch in Abgrenzung zur biografischen Prägung. Der Artikel verlor sich allerdings in Gedankenspielen, wie diese Merkmale einzelner Tycoons weitervererbt oder durch Genmanipulation aufrechterhalten werden könnten.
Unser Genpool wird ja von Generation zu Generation neu gemischt, so dass eine gerade Linie erfolgreicher Nachkommen, quasi geklont, nicht denkbar ist, es sei denn, man züchtet diese regelrecht. Nicht in die Zukunft gerichtet, aber retrospektiv sehe ich bei manchen Menschen, wie sie ihr charakterliches Rüstzeug ererbt haben, wie ihre Entwicklung und ihr Schicksal ihnen schon in die Wiege gelegt wurden, gesundheitlich ebenso wie in der Ausprägung ihrer Persönlichkeit.
Ein ganz essentielles Merkmal der Homöopathie ist ferner, dass körperliche Merkmale und Krankheitsdisposition für uns gleichrangig neben den mentalen und psychischen Eigenheiten einer Person verwertet werden können, uns sogar Rückschlüsse von der einen auf die andere Ebene erlauben. Ich beziehe mich mit diesen Aussagen gerade eben auf die Heredität, weiß natürlich um die mindestens ebenso große Bedeutung der biografischen Prägung für das Schicksal des Individuums. Ein Aufsatz aus meiner Feder Heredität und Prägung verweist darauf und zeigt, wie ich beides auch in meiner therapeutischen Arbeit berücksichtige.
Wir hatten vor einigen Jahren in der AHZ einen breiten Disput über den Wert des Miasmenbegriffes, der von manchen geschätzten Kollegen als überholt betrachtet wird, die lieber von „Folgezuständen infektiöser Erkrankungen“ sprechen wollen. Diesem Argument stellte ich einen Fall entgegen, der aufzeigen kann, dass eine derartige Reduktion der Sache nicht gerecht wird (ich habe ihn schon mehrfach vorgestellt, aber er ist so prägnant):
Ich hielt auf Einladung des Kinderschutzbundes einen Vortrag über Naturheilkunde und Homöopathie. Am folgenden Tag rief ein Mann in meiner Praxis an und meinte, seine Frau habe meine Ausführungen gehört, und nun wisse er, ich sei die einzige Person, die ihm helfen könne. Meine Sekretärin stritt dies nicht ab, wies ihn aber darauf hin, dass auf längere Sicht kein Termin mehr frei wäre für eine Neuaufnahme. Nichtsdestotrotz erreichte er noch am gleichen Tag eine Konsultation.
Herein kam ein gesetzter Herr, Mitte 60, von gutem Benehmen, in feinem Anzug, mit festem Händedruck. Seine Ausstrahlung vermittelte in diesem Moment klar, dass er jetzt der Herr im Hause wäre und ich gleich einem Subunternehmer einen Auftrag zu erfüllen habe.
Was wäre das Problem? Er leide unter fürchterlichen Nächten und erwache zu jeder Stunde aus schrecklichen Albträumen. Er beschrieb sich als Unternehmer, der riesige Baumaschinen vermietet oder verkauft, bei denen alleine die Räder größer seien als ein ausgewachsener Mann. Er sei sehr emotional, könne weinen, wenn er von leidenden Kindern in den Nachrichten höre, aber auch mit seinen Mitarbeitern brüllen, dass die Wände wackeln. Trotz seines reifen Alters sei die körperliche Liebe weiterhin wichtig für ihn.
Ich dachte: gestresster Unternehmer, also Nux vomica! Half aber nicht. Bei der nächsten Sitzung 2 Tage später erfuhr ich noch von einem leichten Ekzem der Beine, sonst fehle ihm nichts. Ekzem und Erwachen zu jeder Stunde: Sulfur; half auch nicht viel. Nun lag es an mir, nicht mehr zu schlafen, denn ich wusste, morgen würde er wiederkommen und ich habe keine Lösung. Also erkundigte ich mich noch nach seiner Familie: seine Mutter sei mit etwa 40 Jahren an plötzlichem Herztod gestorben. Nun fiel bei mir der Groschen: Medorrhinum! Diese Nosode, gegeben in C200, befreite ihn rasch von seiner Not. Und wenn ich ihn später traf, etwa bei einem Konzert, vergewisserte er mich seines tiefen Dankes.
Hier sehen wir einige Essenzen von Medorrhinum: Übertreibung (die großen Baumaschinen), extreme Reaktionen (seine Stimmungauslenkungen), Machtanspruch (seine Dominanz über meine Person und Praxis), plötzlicher Herztod in der Familie und hohe Libido! Lediglich als Folge von Gonorrhoe, Chlamydien, Trichomonaden oder Pilzen, deren Entzündungsprodukt – beim Patienten oder seinen Vorfahren – das Ausgangssubstrat dieser Nosode ist, kann ich mir das nicht erklären.
Ein Miasma, wie hier das der Sykose, ist ein nicht scharf abgegrenztes Fluidum, sein Terrain reicht von handfesten körperlichen Symptomen bis zu gesamtgesellschaftlichen, philosophischen Werten. Im somatischen Bereich aber deckt die diesem Miasma zugeordnete Nosode Medorrhinum vor allem die urogenitalen Erkrankungen ab.
Dieser Fall scheint mir ein Musterbeispiel zu sein für genetisch erworbene Charaktermerkmale, die einem Lebenslauf zugrunde liegen; das Generationen übergreifende Element ist nicht zu übersehen. Der plötzliche Herztod bei nahen Angehörigen, aber auch die koronare Herzerkrankung (CHE), konkret der Myokardinfarkt beim Patienten selbst, zeigen auf das ererbte Miasma der Sykose. Die früher oft zitierte Managerkrankheit ist vielleicht gar nicht die Folge von Überarbeitung, vielmehr könnten hoher beruflicher Ehrgeiz und CHE gemeinsam dem Wesen der Sykose entspringen.
Es ist eine der Grundsünden der medizinischen Wissenschaft, aus Komorbiditäten Kausalitäten zu machen. Anders ausgedrückt: Wenn Faktor A und Faktor B gemeinsam auftreten, dann heißt das noch nicht, dass das eine das andere bedingt, sondern dass hinter beiden der Faktor C als gemeinsamen Wurzel steht.
Während ich die charakterlichen Merkmale nicht mit vorausgehenden Geschlechtskrankheiten in einen weltanschaulichen Zusammenhang bringen kann, so sieht das bei der CHE anders aus. Man hat in den Herzkranzgefäßen davon betroffener Patienten tatsächlich Chlamydien nachweisen können, vermutlich aber nur deren DNA, intrazellulär, vielleicht sogar an die patienteneigene DNA angelagert. Dies belegt, warum der Versuch, die Koronararterien mit Antibiotika zu sanieren, misslang, erklärt aber auch, dass der Chlamydien-Infekt seinen Spuren im Erbgut hinterlassen haben kann. Und: dass es offenbar Sinn macht, bei entsprechender Veranlagung in nicht zu seltenen Gaben diese Nosode zu verabreichen.
Auch folgender Fall betrifft einen über Gebühr erfolgreichen Unternehmer, auch aus dessen Laufbahn einem das Wesen von Medorrhinum entgegentritt. Er ist ein Freund und wird es mir hoffentlich nicht übelnehmen, dass ich hier seine Laufbahn beschreibe – soweit ich sie denn kenne. Ich weiß, dass er bis zum Zusammenbruch gearbeitet hat, um mit Kapitalanlagen ein Vermögen zu schaffen, also keine Produktion, kein Handel oder Gewerbe, alleine die Erwirtschaftung von Geld – ich glaube, dafür muss man geboren sein. Er wohnt in einem sehr großzügig angelegten Haus, also in keiner Kaschemme wie wir anderen. Mitte 50 gab er sein Unternehmen ab, aber um sich nicht zu langweilen, befasste er sich nun mit teuren, vor allem italienischen Sportwagen; nicht nur mit einem, sondern ein gutes Dutzend hat er als Schrottwagen erworben, um sie dann umfassend und mit Hingabe gründlichst zu sanieren.
Ich könne sie mal besichtigen, lud er mich ein in einen Schuppen am Stadtrand. Vergeblich suchte ich den „Schuppen“, fand unter der angegebenen Adresse allerdings ein nagelneues Fabrikgebäude, das er extra dafür errichten ließ, opulent und mit erlesenem Geschmack eingerichtet. Mittlerweile hat er fast alle dieser Schätze wieder verkauft, nachdem er sich damit ausgetobt hat. Nun baut er mit ähnlicher Hingabe ein englisches Cottage aus und gestaltet auf zigtausend Quadratmetern einen feinen parkähnlichen Garten. Ich vergleiche ihn mit Dagobert Duck, der, anstatt sich einen Kaugummi zu kaufen, gleich die ganze Fabrik nimmt.
Medorrhinum hat dieses expansive Element, das auch Staatslenkern und anderen Mächtigen zu Eigen sein muss, ohne das sie vielleicht ihre Karrieren nie gemacht hätten. Wir sprechen hier übrigens von der Hypersykose, die man auch als Kompensation eines Mangels verstehen kann und die zum Erfolg anstachelt, im Gegensatz zur Hyposykose, die vor allem durch das Arzneimittelbild von Thuja beschrieben wird, gekennzeichnet durch erhebliche Minderwertigkeitsgefühle und Versagensängste.
Er hat aber auch die körperliche Seite der Sykose erleben müssen. Eines Abends wurde ich zu einem Hausbesuch gerufen wegen einer Nierenkolik. Während in solchen Fällen eine Morphium-Spritze und vielleicht eine Gabe Berberis binnen kurzem Erleichterung bringen, so fand er dadurch kaum Erlösung; eine stationäre Einweisung wurde nötig und ergab, dass er nicht nur einen Stein hatte, welcher leicht durchrutschen hätte können, sondern einen ganzen Steinbruch. Ein operativer Eingriff wurde unumgänglich, zuerst mikroinvasiv, wegen Komplikationen aber dann noch mit einem großen Schnitt. Nicht genug der Sykose, es stellte sich noch eine schwere Prostatitis ein; nach deren angemessener Behandlung herrscht nun erst mal Frieden.
In seiner Familie und in seiner eigenen Biografie zeigen sich nur insofern Hinweise auf die Sykose, als er in seiner Kindheit an allergischem Asthma litt und ich bei seiner betagten Mutter mit 3 Gaben Thuja C200 eine kirschgroße Warze an der Schläfe zum Verschwinden bringen konnte.
Eine weitere Arznei, die von ähnlichen Ambitionen gezeichnet ist, das ist Aurum. Allerdings ist hier der Leistungsanspruch noch fundamentaler, das destruktive Element präsenter. So kann dieser Typus mit tiefster Depression auf ein Versagen reagieren. Man erinnert sich des erfolgreichen schwäbischen Unternehmers, der sich den Verlust eines Teils seines Vermögens infolge eines Börsen-Crashs nicht verzeihen konnte und sich vor den Zug warf. Er wäre sicher nicht arm geworden. Die Pathologie von Aurum auf der somatischen Ebene betrifft Myocard und Knochen.
Warum wir sind, wie wir sind: die Homöopathie vermag uns viele solcher Geschichten zu erzählen.
Bamberg, im April 2023